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Effizient statt abgehängt: Wie Europas Autobauer ihre F&E-Prozesse transformieren
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Auf einen Blick

Während etablierte Automobilhersteller oft jahrelange Entwicklungszyklen und hohe F&E-Kosten schultern, bringen aufstrebende chinesische Wettbewerber neue Modelle in Rekordzeit auf den Markt – und das mit deutlich geringeren Budgets. Die Bain-Partner Dr. Eric Zayer und Daniel Suter erklären, warum es jetzt auf schnellere Entwicklungszeiten, fokussierte Innovationsstrategien und eine neue Standortpolitik ankommt.

Obwohl erst im September, wirft die IAA Mobility bereits erste Schatten voraus. Die wichtigsten Themen werden bereits sortiert. Was erwarten Sie?

Eric Zayer: Neben neuen Modellen und wegweisenden Innovationen – den klassischen Höhepunkten der führenden Automobilmesse – dürfte in diesem Jahr bei vielen Herstellern und Zulieferern im Hintergrund vor allem das Thema Effizienz und Kosten im Fokus stehen. Forschung und Entwicklung (F&E) spielt dabei nicht nur eine zentrale Rolle für die Zukunftsfähigkeit der Branche, sondern hat auch große Potenziale zur weiteren Effizienzsteigerung, wie wir in unserer aktuellen Studie „When Less is More: Shifting Gears in Automotive R&D“ dargelegt haben.

Was ist der Hintergrund?

Eric Zayer: Traditionelle Automobilhersteller folgen in der Regel einem ähnlichen F&E-Ansatz: Die Ausgaben belaufen sich meist auf 6 bis 8 Prozent des Umsatzes. Doch dieses bewährte Prinzip wird zunehmend von aufstrebenden Wettbewerbern – insbesondere aus China – infrage gestellt. Einige von ihnen sind wesentlich effizienter, benötigen pro zu entwickelndem Fahrzeugmodell im Schnitt weniger als ein Drittel der F&E-Budgets der fünf größten deutschen Hersteller. Dieser Unterschied ist erheblich! Zudem bringen sie neue Modelle deutlich schneller auf den Markt: Während klassische Hersteller für die Entwicklung eines Fahrzeugs durchschnittlich 48 bis 54 Monate benötigen, schaffen es chinesische Wettbewerber oft in nur 24 bis 30 Monaten.

Was sollten etablierte Automobilhersteller demnach tun?

Daniel Suter: Die traditionellen Automobilkonzerne müssen angesichts der chinesischen Herausforderer ihre F&E-Strategien transformieren, kosteneffizienter und schneller werden sowie sich insbesondere auf die künftig relevanten Schlüsselinnovationen fokussieren. Zudem gilt es, die Modell- und Variantenvielfalt zu verschlanken. Viele europäische Hersteller haben ihr Modellportfolio aufgebläht – seit dem Jahr 2000 beispielsweise um bis zu 250 Prozent. Dies kostet in der Entwicklung zu viel Zeit und Geld. Und neue Wettbewerber zeigen, dass die Kundschaft nicht notwendigerweise ein großes Fahrzeugportfolio honoriert, sondern Hersteller mit wenigen Modellen, die ihre Bedürfnisse aber sehr gut treffen.

Wie können zudem kürzere Entwicklungszeiten erzielt werden?

Daniel Suter: Eine Möglichkeit besteht darin, zentrale Prozesse parallel statt sequenziell abzuwickeln. Eine weitere Option ist der Einsatz digitaler, zunehmend KI-gestützter Tools, um einzelne Entwicklungsschritte zu automatisieren. Hier bietet sich schon heute unter anderem die Softwarecode-Dokumentation und die Qualitätsprüfung von Konstruktionszeichnungen an. Digitale Zwillinge und die Simulation einer größeren Bandbreite an Testfällen wiederum senken den Bedarf an Tests mit physischen Prototypen.

Welche Rolle bei der künftigen Ausrichtung der F&E-Strategie spielen Innovationen?

Eric Zayer: Eine absolut entscheidende Rolle. Die Bedürfnisse der Kundinnen und Kunden entwickeln sich stetig weiter, und die technischen Möglichkeiten erlauben neue Funktionalitäten. Megatrends wie Elektrifizierung, (teil-)autonomes Fahren beziehungsweise Fahrerassistenzsysteme (FAS) sowie Konnektivität bieten hohe Chancen, auf neuen Dimensionen zu begeistern. Traditionelle Dimensionen verlieren gleichzeitig an Bedeutung. Deshalb ist es so wichtig, dass sich die Entwicklungsabteilungen nicht verzetteln, sondern den Fortschritt in jenen Bereichen vorantreiben, die wirklich zählen – also etwa bei Batterien, Energiemanagementsystemen, softwaregesteuerten Funktionen wie FAS, Datenmanagement und Infotainment. Die Hersteller müssen ihre F&E-Ressourcen bündeln und fokussieren, um neue Modelle mit den künftig attraktivsten Features ausstatten zu können.

Stehen auch Standorte, an denen F&E betrieben wird, bei europäischen Herstellern zur Disposition?

Daniel Suter: Viele OEMs betreiben F&E weitgehend in Hochkostenländern, chinesische Aufsteiger und einige europäische Vorreiter meist an weitaus günstigeren Standorten. Für die europäischen Hersteller haben deshalb Verlagerungen von F&E-Abteilungen eine hohe Relevanz. Neben der Verbesserung der Kostenposition kann es darüber hinaus sinnvoll sein, F&E für Schlüsselmärkte vor Ort zu betreiben. Eine derzeit beliebte Maxime lautet „In China for China“ – in der Annahme, dass lokale Entwicklerinnen und Entwickler die Bedürfnisse und Vorlieben der dortigen Kundschaft am besten verstehen und bedienen können.

Wie hoch bewerten Sie grundsätzlich den Handlungsdruck?

Eric Zayer: Sehr hoch. Zugespitzt formuliert, bauen die aufstrebenden Wettbewerber, und zwar nicht nur diejenigen aus China, mehr für weniger. Um wettbewerbsfähig zu bleiben, sind die europäischen Automobilhersteller zum Umsteuern gezwungen. Die Branche verändert sich und die etablierten Hersteller verfügen dabei über viele wertvolle Assets. Dazu gehören beispielsweise eine loyale Kundschaft, hervorragend qualifizierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie herausragende Fähigkeiten in Entwicklung und Produktion, die es ihnen ermöglichen, auch dauerhaft zu begeistern. Doch sie müssen an den richtigen Kostenhebeln arbeiten, um die Effizienz zu steigern. Noch ist Zeit, um die Ausgangslage zu verbessern und dauerhaft an der Spitze zu bleiben.

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